Kolumne



Januar 2019

Yoga ist Erkenntnis, die ins Herz führt


Ein gewichtiger Satz oder besser: ein Satz mit Gewicht!
Was macht diesen Satz so ge – wichtig und welche Erkenntnis ist hier gemeint?
Wie kann ich mich diesen Fragen nähern? Yoga bietet viele Zugänge für Klarheit in diesen Fragen.

Ziehen wir das Patañjali Yogasutra heran, so hat Erkenntnis eine Voraussetzung:
Es wird eine innere Qualität der Präsenz, eine dynamische Stille in uns benötigt, in der Gedanken und Gefühle nicht mehr drängen(1). Gedanken und Gefühle sind somit nicht abwesend, jedoch ihre Qualität wird stress, – und somit druckfreier erlebt. Das steigert unser Selbstwohlgefühl.
Ein solcher Zustand drückt geistige Balance aus und ist möglich. Dieser inneren Qualität wohnt die Möglichkeit der Erkenntnis inne. Erkenntnis von wem oder was? Vom eigenen wesentlichen Kern unseres Selbst(2).
Das schafft zunächst noch nicht wirklich Klarheit, sondern wirft eher eine neue Frage auf: Was versteht man unter diesem wesentlichen Kern und wie macht er sich bemerkbar? Wie erlebe ich ihn?

Es braucht zunächst ein wachsendes Verständnis darüber, was diesen wesentlichen Teil meines Selbst überlagert. Es wird darauf verwiesen, dass es unsere geistigen, gewohnheitsmäßig(3) ablaufenden Aktivitäten(4) sind, die diese Balance  und damit die Selbst-Erkenntnis verhindern. Lassen wir diese Aussage zunächst stehen. Wir können sie prüfen. Wende sie auf Dich an, indem Du selbst zum Beobachter darüber wirst, was Du den lieben langen Tag so alles denkst. Wie oft denkst Du dasselbe? Was denkst Du? In welcher Qualität denkst Du? Sind Deine Gedanken Fluch oder Segen?

...Pause

 

Wir sind darauf trainiert, uns mit unseren geistigen Aktivitäten gleichzusetzen. Das was ich denke bin ich – bullshitt!
Du hast einen Gedanken, aber Du bist nicht Dein Gedanke! Dein wesentlicher Kern betrachtet sein Auftauchen, Bleiben und Verschwinden. Wenn Du Dein Gedanke wärst, müsstest DU DICH jedes Mal wenn er verschwindet auch auflösen! Denke mal darüber nach…

Jeder Gedanke (bewusst oder unbewusst) formt die eigene Realität und daraus folgt Identität.
Welche Realität willst Du vorfinden? Kannst Du zum Beobachter von Dir selbst werden und erkennen, wie Du denkst, wie Du handelst und dadurch Realitäten schaffst? Yogapraxis hilft dabei – sie schult Beobachter werden.
Welche Gedanken kannst Du erkennen? Welche Gedanken spuckst Du aus? Welche Gedanken finden ins Handeln und schaffen Deine Realität und damit Deine Identität?

...Pause


Wer von uns weiß schon, dass eine Realität jenseits der Gedanken existiert? Würdest Du diesem Gedanken nachgehen, würdest Du in eine andere Identität finden. Das Schwierige ist: eine Realität jenseits geistiger Aktivitäten kann der Verstand nicht denken.
Yogapraxis versteht sich als Brücke, die dem Verstand(5) erlaubt, über sich hinaus zu wachsen. Das meint, über die geistigen Konditionierungen(3)  und damit Engheiten hinaus! Dies wird durch Meditation möglich.
Meditation gilt als Herzstück des Yoga und wird als geistig, wache Qualität des Verstandes verstanden – übbar durch eine sieben Stufenpraxis(6). Meditation ist Ziel und Praxis zugleich.
Meditation wird verstanden als geistiger Zustand, in dem Freiheit erfahren wird zu Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen, Erwartungen, Ängsten, Abneigungen. Das bedeutet nicht frei von ihnen zu sein! Das ist ganz wichtig!
Du schaltest Deine Gefühls- und Gedankenwelt nicht ab! Eher wirst Du vollständige/r Teilhaber, -in an der gesamten Bandbreite Deines Wesens und der Welt die Dich umgibt. Du erlebst Fülle und, wenn Du lernst diese zu bejahen, erreicht sie Dein Herz!
Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, schrittweise freier zu werden zu Allem, was den echten Moment zudeckt. Das lässt Dich ganz gegenwärtig(7) und bewusst- sein für jeden wunderbaren Moment.
Aus diesem JA zu sich Selbst, zum Leben und präsenten Erleben kann sich ein Gefühl des Glücks(8) aus dem eigenen Inneren erheben. Es wird das gesamte Wesen zum Leuchten bringen. Du gewinnst Ausstrahlung!
Diese ausstrahlende Glücksempfindung ist Eigenschaft des Herzens – es wird weit und umarmt Dein Leben – urteilsfrei. Dies ist Kennzeichen für den eigenen, wesentlichen Seins-Kern.

Was bedeutet das für uns und unser Leben?
Wir entfalten die dem Menschen als Geburtsrecht mitgegeben Qualitäten(9) wie liebende Güte, Mitgefühl, Fehlerfreundlichkeit und Mitfreude - Qualitäten, die die Würde des Menschen unterstreichen.

Diese Weite und Würde wünsche ich Dir! Ich wünsche Dir, dass Du wieder in Dein „Herzbauchgefühl“ findest! Ich wünsche Dir, die Erfahrung von Reichtum und Fülle!
Ich wünsche Dir Sein in Deinem wesentlichen Kern, diesem in Dir angelegten inneren Kompass für würdevolles Leben. Möge er Dich leiten. Jede Kompassnadel zeigt nach Norden. Ich wünsche Dir, dass Dein Norden immer Dein Herz ist – die stärkste Gewichtung dieser Welt.

 


(1) Sutra 1.2
(2) Sutra 1.3
(3) samskara
(4) vṛtti (Sutra 1.4 ff)
(5) der Sanskritbegriff für Verstand wird als citta verstanden
(6) der achtgliedrige Pfad – ashtanga
(7) Sutra 1.1
(8) ananda
(9) bhãvana – maitri, karuna, mudita, upeksa – Sutra 1.33